„Bozaaa“ ruft Mevlut abends durch die Gassen von Istanbul und bietet mit einem schweren Tragjoch auf den Schultern als ambulanter Händler dieses altosmanische Getränk aus fermentiertem Getreide an. Orhan Pamuks Held scheint einem europäischen Schelmenroman entsprungen zu sein: Er ist gutmütig, klug und naiv zugleich, stammt aus der unteren Schicht und verstrickt sich in vielerlei Abenteuer.
So verliebt er sich bei der Hochzeit seines Cousins in die jüngste Schwester der Braut, schreibt jahrelang Liebesbriefe, bis er entschließt, die junge Schöne zu entführen. Beim ersten direkten Blick in ihr Gesicht begreift er, dass es sich um eine andere Schwester handeln muss. Daraus entwickelt sich eine bezaubernde Liebesgeschichte. Dem Genre gemäß schreitet die Handlung angenehm leicht und mit viel Ironie erzählt voran. Hinter den Geschehnissen verbirgt sich aber erboste Kritik am zeitgenössischen Istanbul. Der Ausverkauf der Stadt an rücksichtslose Investoren wird deutlich: Seelenlose Betonklötze verdrängen alte Häuser, Fertigprodukte ersetzen selbst gekochte Speisen. Im Zangengriff zwischen westlichen Einflüssen und fundamentalistisch-islamischen Normen geht hier vor den Augen des Lesers eine einst multikulturelle, individuelle Identität der Stadt verloren.
(nt)
Fazit: Ein nostalgisches Porträt der Stadt Istanbul in den vergangenen fünfzig Jahren aus der Perspektive eines traditionellen Straßenverkäufers, zudem eine ungewöhnliche Liebesgeschichte.
Orhan Pamuk
Diese Fremdheit in mir
Übersetzt von Gerhard Meier. Hanser Verlag, Umfang: 592 Seite.
Rezension ist 2016 erschienen im Bücher Magazin.