Der argentinische Schriftsteller Alberto Manguel ist Universalgelehrter und Bibliomane. Seit frühester Kindheit liebt er das Lesen, besitzt eine umfangreiche Privatbibliothek in Frankreich und hat der „Geschichte des Lesens“ ein komplexes Buch gewidmet, das in 36 Sprachen übersetzt wurde. Raffiniert durchkomponiert, ausgehend von persönlichen Erlebnissen, erzählt Manguel darin über die Kulturgeschichte des Lesens, des Schreibens, der Bücher und Bibliotheken.
In einem Gespräch verrät Manguel, wie er als Jugendlicher Vorleser des berühmten Jorge Luis Borges wurde und warum das Bett ein bevorzugter Ort des Lesens ist.
Señor Manguel, Sie besitzen eine beachtliche, rund 35.000 Bücher umfassende Bibliothek in einem alten Pfarrhaus in dem kleinen französischen Ort Mondion. Warum gerade dort und nicht in Kanada, wo Sie leben?
Der Zufall ist der beste Bibliothekar. Ich war auf der Suche nach einem geeigneten Ort für meine Bibliothek. In Kanada ging es leider nicht, denn da sind die Immobilienpreise in den Städten sehr hoch, und auf dem Land gibt es dort keine guten Zugverbindungen, ich fahre ja kein Auto. Also fing ich an, in Frankreich zu suchen, wo ich mal gelebt habe. Zufällig lud mich eine Buchhandlung in Poitiers zu einer Signierstunde ein und ich entdeckte diese bezaubernde Gegend. Und so fand ich mein Haus, in einem alten Pfarrhaus in einem kleinen Dorf im Poitou.
Sie sind in Buenos Aires geboren, in Israel aufgewachsen, hatten ein deutsches Kindermädchen und haben nun die kanadische Staatsbürgerschaft. Wo fühlen Sie sich zu Hause?
Als Kind fühlte ich mich in den Häusern, die meine Eltern mieteten, nie richtig zu Hause. Aber nachts im Bett hatte ich immer meine vertrauten Bücher zur Hand. Ich nahm eines meiner Bücher, schlug eine Seite auf und empfand große Erleichterung beim Anblick der vertrauten Geschichte mit den gewohnten Illustrationen. Dadurch fühlte ich mich sicher. Dieses Gefühl, in meinen Büchern zu Hause zu sein, ist nie verschwunden.
Sie sind viel auf Reisen, welche Lieblingsbücher begleiten Sie, wenn Sie unterwegs sind?
Seit sechs Jahren begleitet mich stets Dante. Einen Band der „Göttlichen Komödie“ habe ich immer bei mir, ich lese jeden Morgen einen Gesang, das ist wie eine Meditationsübung. Ich habe auch immer einen Kriminalroman dabei, dazu einen erbaulichen Klassiker: Dickens, George Eliot, Zola.
Sie stöbern bekanntlich gern in Bibliotheken und haben der Bibliothek von Aby Warburg in Hamburg ein ganzes Kapitel in Ihrem Buch „Die Bibliothek bei Nacht“ gewidmet. Was fasziniert Sie an diesem Ort*?
Aby Warburg ist für mich der ideale Leser, er war jemand, der mit absoluter Freiheit interpretierte. So wie er dachte, baute er auch seine Bibliothek: ohne Ecken und Kanten, mit der Freiheit, sich täglich neu zu organisieren.
Haben Sie noch weitere Lieblingsbibliotheken?
Außer der Warburg Bibliothek die Huntington Library in Pasadena, die Bibliothèque Historique in Paris, die Asplund Bibliothek in Stockholm sowie die Toronto Reference Library.
Als junger Mann begannen Sie ein Studium der Literaturwissenschaften in Buenos Aires, verließen die Uni aber sehr rasch wieder. Was lief an der Uni schief, waren die Professoren schlecht?
Ich hatte das Glück, eine exzellente Ausbildung am Gymnasium „Colegio Nacional de Buenos Aires“ zu erhalten, wo Professoren ihre Fächer mit Leidenschaft unterrichteten. Als ich dann an der Fakultät für Literatur anfing zu studieren, langweilten mich die Theoriekurse und nach einem Jahr verließ ich die Uni wieder. Ich weiß nicht, wie man anders Literatur lehren sollte als mit echter Leidenschaft. Junge Menschen entdecken immer die Unaufrichtigkeit eines Lehrers.
Als Jugendlicher waren Sie 1964 bis 1968 in Buenos Aires Vorleser des damals langsam erblindenden Autors Jorge Luis Borges. Hat Borges in Ihnen den Wunsch geweckt, einmal selbst Bücher zu schreiben?
Nein, ich wusste, ich wollte umgeben von Büchern leben, Leser sein, nicht Schriftsteller. Borges sagte „der Schriftsteller schreibt, was er kann, der Leser liest, was er will“. Das Schreiben kam für mich erst später, als Folge meiner Lektüren.
In Ihrem Nachwort zu dem Borges Erzählband „Die unendliche Bibliothek“ erklären Sie, dass für Borges das Universum eine gigantische Bibliothek war, und dass jeder, der ein Buch schreibt oder liest, an dem universellen Dialog teilnimmt, der vor mehr als 1000 Jahren begonnen hat… .
So ist es, aber Borges wusste, dass Literatur nicht die reale Welt ist, so hat er es in „Dreamtigers “ erklärt, da sagt er, dass ein Traum, literarisch oder nicht, die Realität nicht reproduzieren kann. So besagt es auch seine Erzählung „Der Kongress“: Die Realität genügt sich selbst, um erzählt zu werden.
Sie zitieren in „Eine Geschichte des Lesens“ Kafkas Worte „Das Buch kann die Welt nicht ersetzen“, Sie schreiben aber auch, die ersten Erfahrungen der Welt kamen für Sie aus Büchern, frühe Lektüreerlebnisse haben spätere Erfahrungen scheinbar bereits angekündigt?
Bücher können die Welt nicht ersetzen, aber in Worte fassen, damit wir sie besser infrage stellen können. Unsere Vorstellungskraft kann Situationen erschaffen, um etwas von der Welt zu erfahren, bevor wir es leibhaftig erleben.
In Ihrem Buch beschreiben Sie das Bett als einen bereits in der römischen Antike bevorzugten Ort des Lesens, auch Autoren wie Colette und Proust haben gern im Bett gelesen und geschrieben. Warum passen Bücher und Betten so gut zusammen?
Die Schriftstellerin Edith Wharton berief sich auf ihr Bett als einzigen Ort der Freiheit und des Privatlebens. Das Bett ist eine Art „room of your own“, wie Virginia Woolf es ausdrücken würde. Für andere Autoren ist das Bett vielleicht wie ein Wagon zum Reisen. Die Fantasie wählt ihre Zufluchtsstätte aus, ohne Erklärungen zu geben.
Interessant ist auch der historische Aspekt, dass das „stille Lesen“ sich erst seit dem Mittelalter in unserer Kultur etabliert hat. Vorher war es üblich, laut zu lesen, auch wenn man allein las oder in einer Bibliothek saß?
Die stille Lektüre ist entstanden als es nicht mehr notwendig war, laut zu lesen, um einen Text zu verstehen. Natürlich war vorher kein wirklich lautes Lesen üblich, es war eher eine Art Murmeln, wie in einer Talmud-Schule. Das war in der Antike erforderlich, weil römische und altgriechische Schriften in Großbuchstaben ohne Leerzeichen zwischen den einzelnen Wörtern und mit nur wenigen Satzzeichen geschrieben waren. Erst viel später wurde das stille Lesen zur Norm, und im 19. Jahrhundert begann die Ära des intimen Lesens.
In einem aktuellen Vorwort zur „Geschichte des Lesens“ kritisieren Sie die „bulimische Konsumhaltung“ der Menschen im Internetzeitalter. Sie lieben die traditionelle Art des Lesens von gedruckten Büchern auf Papier?
Ja, aber ich bin kein Exklusionist. Manchmal ist das Lesen elektronischer Texte die beste Wahl. Aber ich bin Nostalgiker, ich ziehe das Lesen auf Papier vor… .
Heutzutage ist es in modernen Gesellschaften fast undenkbar, ohne Computer und Internet zu leben. Schreiben Sie Ihre Bücher nicht am PC?
Ich nutze meinen Computer als Schreibmaschine, aber ich nutze kein Internet und habe auch kein Mobiltelefon. Wenn ich es bräuchte, würde ich es ja nutzen, aber ich brauche es nicht. Die meisten Menschen halten sich für unentbehrlich und meinen, 24 Stunden am Tag erreichbar sein zu müssen. Ich nicht.
Eine letzte Frage: Was lesen Sie gerade?
Die wunderbare Novelle „Las leyes de la frontera“ (noch nicht auf Deutsch erschienen) von Javier Cercas und das großartige Buch „Unter Freunden“ von Amos Oz. Zwei Meisterwerke.
Interview und Übersetzung: Nicole Trötzer
*Das Warburg-Haus mit Bibliothek und einem ovalen Lesesaal befindet sich in der Heilwigstraße 116 in Hamburg.
Quellen, Bücher:
Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens.
Taschenbuch. S. Fischer Verlag, 480 Seiten, 14,99 Euro.
Die Bibliothek bei Nacht
Fischer Taschenbuch
400 Seiten, 12,95 Euro
Das Tagebuch eines Lesers
Fischer Taschenbuch
240 Seiten, 9,95 Euro
Jorge Luis Borges:
Die unendliche Bibliothek.
Herausgegeben von Alberto Manguel.
Erzählungen, Essays, Gedichte
Sammelband. Fischer Taschenbuch, 384 Seiten.
Original erschienen im BÜCHER Magazin 2013, Falk Media Verlag Kiel.