In einem langen Liebesbrief an eine verlorene Geliebte gesteht der Gelehrte und Sammler Adrià Ardèvol die Einzelheiten seines Lebens. Dabei beginnt er mit seiner Kindheit im Barcelona der Fünfzigerjahre, die er meistens im Antiquitätenladen seines kühl distanzierten Vaters verbrachte. Rückblickend erzählt er Episoden aus dem Leben seiner Eltern und Großeltern und deckt dabei dunkle Familiengeheimnisse auf: Mord und Verrat. Eine antike Storioni-Geige aus der Sammlung seines Vaters dient ihm als roter Faden, um 600 Jahre europäischer Geschichte zu durchstreifen – in der sich Gewalt, Unterdrückung und Lüge scheinbar endlos wiederholen.
Der katalanische Schriftsteller Jaume Cabré verwebt in seinem Roman „Das Schweigen des Sammlers“ kunstvoll verschiedene Erzählebenen, Stimmen und Epochen aus der abendländischen Kultur. Dabei spiegeln die Lebenserinnerungen des Adrià Ardèvol die traumatischen Auswirkungen des spanischen Bürgerkrieges und der Franco-Diktatur wider und werfen die Frage auf, warum Europa, die Wiege der westlichen Kultur und Zivilisation, immer wieder zu einem Schauplatz der Gewalt wurde. Der 1947 in Barcelona geborene Schriftsteller lebt mit seiner Familie seit dreißig Jahren in dem idyllischen katalanischen Dorf Matadepera, umgeben von Pinienwäldern und Steineichen.
Ist es wahr, dass Sie sich zu Beginn eines neuen Romans auf eine Reise ohne Kompass begeben, ohne zu wissen, wohin die Reise geht?
Ja, es ist jedes Mal ein Abenteuer: Schreibend entdecke ich die Personen meiner Romane und deren Welt. Nie könnte ich mir im Kopf eine komplette Geschichte von Anfang bis zum Ende ausdenken, um sie Monate später auf Papier zu bringen, das wäre sehr ermüdend und langweilig für mich. Es ist auch riskant, denn man kann sich eine schöne Tracht Prügel einhandeln, wenn man sich nicht in dem Labyrinth seiner eigenen Geschichte zurechtfindet.
Sie haben acht Jahre an „Das Schweigen des Sammlers“ gearbeitet, einem Roman, der fast 1.000 Seiten umfasst. Wie bewältigen Sie so ein komplexes Werk?
Das geht nur mit Disziplin. Jeden Tag arbeite ich daran von morgens bis abends, ich unterbreche nur für ein katalanisches Mittagessen, gegen halb zwei.
Ihre Romane sind in diverse europäische Sprachen übersetzt worden, unter anderem ins Deutsche, Niederländische, Italienische, Französische. Welchen Leser haben Sie beim Schreiben vor Augen?
Keinen bestimmten, eher einen globalen Leser. Ich denke, wenn das, was ich schreibe Ausdruck meiner Seele ist, kann es jeden Leser in jedem anderen Land berühren.
Sie beschreiben in Ihren Romanen vor allem die dunklen Kapitel der europäischen Geschichte: Inquisition, Faschismus. Sie schildern Charaktere mit abgründigen Seiten: ungerecht, grausam, korrupt. Was gibt ihnen persönlich Hoffnung?
Alles Positive: Liebe, Großzügigkeit, Loyalität und meine Arbeit. Ich erfreue mich an Intelligenz und Sensibilität bei Menschen. Ich finde mein persönliches Gleichgewicht im Kreis meiner Familie, das familiäre Umfeld gibt mir die Kraft, weiterzuarbeiten. Die Familie ist deshalb für mich noch wichtiger als die Schriftstellerei.
Ihre Romane spielen im Wesentlichen in Katalonien, in Barcelona, wo Sie aufgewachsen sind. Zudem verweben Sie die Handlung mit Episoden aus gewaltsamen Epochen an verschiedenen europäischen Schauplätzen. Wie schätzen Sie die Lage in Europa heute ein, wiederholen sich immer dieselben Fehler?
Es wiederholen sich dieselben Fehler, nur die Art des Horrors, den sich Menschen gegenseitig zumuten, wandelt sich. Dennoch entwickeln wir uns weiter. Meine Vorstellung von Europa sieht so aus, dass Länder wie Katalonien, Galizien, das Baskenland oder die Bretagne mehr Autonomie erhalten sollten, dafür müssten die Staaten Macht abgeben. Wir könnten doch die vereinten Länder Europas sein.
Glauben Sie, dass Literatur die Welt verbessern kann?
Das wäre eine zu optimistische Behauptung. Literatur lässt das Leben erträglicher sein. Ich denke, Bücher und die Kunst im allgemein, können den menschlichen Umgang positiv beeinflussen. Deshalb ist es wichtig, dass alle Menschen Zugang zu Kultur und Kunst haben. Wer kulturell gebildet ist, hat eine ausgewogene Sichtweise, kann sich leichter in andere hineinversetzen und ist es gewohnt, im Dialog mit anderen zu stehen.
Nach Rafael Massó, dem Gerichtspräsidenten von Barcelona im ausgehenden 18. Jahrhundert und nach Elisenda Vilabrú, einer stolzen, einflussreichen Unternehmerin zur Zeit der Franco Diktatur, ist der Held Ihres neuen Romans ein sensibler, gebildeter Mann, den der Leser zu Anfang als kleinen Jungen erlebt. Haben Sie diesen Romanhelden besonders ins Herz geschlossen?
Nein, überhaupt nicht. Ich fühle mich jeder Person aus meinen Romanen gleich nah, die Beziehung ähnelt immer ein wenig der des Vaters zu seinen Kindern, man hat sie alle gleich lieb. Ich mag auch ihre Schwächen, denn letzten Endes habe ich ihnen die ja zugeschrieben! Sie sollen lebendig wirken, so, dass sie dem Leser wie reale Personen erscheinen. Manche Leser haben sich schon in eine meiner Romanfiguren verliebt, dass macht mich glücklich.
Nach acht Jahren Arbeit an „Das Schweigen des Sammlers“ muss Ihnen die Trennung schwer gefallen sein… .
Einen Roman abzuschließen ist immer sehr hart für mich. Ich plane am Anfang nie ein Ende für meine Romane, ich bin mir nicht sicher, wann und wie sie enden müssen, die Geschichte könnte auch fortgesetzt werden. „Das Schweigen des Sammlers“ bleibt deshalb unvollendet, ich habe mir das Werk sozusagen aus der Hand nehmen lassen.
Ihr neuer Roman behandelt Aspekte aus 600 Jahren europäischer Geschichte und handelt von den Eckpfeilern des Bösen in Europa, unter anderem verkörpert von einem spanischen Inquisitor aus dem 15. Jahrhundert sowie einem Arzt in Auschwitz. Wie genau gehen Sie bei den Recherchen für historische Szenen vor?
Gründlich genug, um zu wissen, dass ich keinen Blödsinn schreibe. Aber ich bin kein Historiker, ich erschaffe Welten, die Bezüge zur Gegenwart und zur geschichtlichen Vergangenheit haben. Ich erhalte immer die Flamme der narrativen Intuition aufrecht, denn es geht mir ja nicht um das Dokumentieren, es geht um das Schreiben.
Sie sind von Kritikern unter anderem wegen Ihres ausgefeilten Stils und der genauen, sensiblen Beschreibung Ihrer Charaktere bereits mit Thomas Mann verglichen worden, schmeichelt Ihnen das?
Also, das haut mich um! Mann ist für mich als Schriftsteller ein Idol, dennoch schreibe ich ganz anders. Ich habe aber so gut wie alles von Thomas Mann gelesen, besonders inspiriert hat mich „Doktor Faustus“.
Jaume Cabré: Das Schweigen des Sammlers. Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt und Petra Zickmann. Insel Verlag, 845 Seiten, geb. 24,90 Euro, erschienen am 12.12.2011.