Über kleine Unwahrheiten und die Kunst des Verschwindens

„Lügen“ ist die Geschichte einer katalanischen Familie, deren Mutter und Großmutter auf einer Forschungsreise nach Guatemala für tot gehalten wird. Während diese mit dem reizvollen Gedanken spielt, das Missverständnis nicht aufzuklären, um ein geheimes Leben im Dschungel zu führen, trauern daheim in Barcelona ihre

Guatemala – Die Heldin aus dem Roman von Enrique de Hériz taucht hier unter.

Angehörigen und verstricken sich in Erinnerungen, Unwahrheiten, Zweifel und Legenden.

 

 

Der Roman „Mentiras“ war in Spanien der große Überraschungserfolg und hat den Autor Enrique de Hériz aus Barcelona zu einem bei Kritikern angesehenen und beim Publikum beliebten Autor werden lassen. Für „Lügen“ erhielt er den katalanischen Buchpreis Premi Llibreter 2004.

Interview mit Enrique de Hériz in Hamburg 2005:

Ihr Roman trägt den Titel „Lügen“: Glauben Sie, dass Menschen ein Grundbedürfnis nach Lügen und Legenden haben?
Ja, es gibt eine Notwendigkeit, Wahrheiten zu verhüllen. Paradoxerweise ist die „Lüge“ ein sehr negativ besetzter Begriff in unserer Kultur, aber dennoch gibt es viele Lebensgemeinschaften, die ohne kleine Unwahrheiten oder Verschiebungen der Wahrheit nicht auskämen. Denken wir mal an Liebesbeziehungen, da streben wir doch nicht nach Tatsachen, sondern lassen uns gelegentlich lieber von Illusionen umhüllen.
Die Figur der Mutter und Großmutter in ihrem Roman, Isabel García Luna, ist
Anthropologin, man erfährt durch sie viel über Riten anderer Kulturen. Haben Sie das alles recherchiert?
Das habe ich in wissenschaftlichen Büchern über Ethnologie und Anthropologie gelesen, ich habe für dieses Buch drei Jahre lang intensiv über Todes- und Bestattungsriten diverser Kulturen der Erde recherchiert – ein faszinierendes Thema. Ich konnte nur einen Bruchteil des Materials in den Roman einbringen.
Sind Sie auch nach Guatemala gereist, wie Ihre Romanheldin?
In Guatemala war ich selbst auch, bevor ich den Roman geschrieben habe. Der Dschungel hat mich zu der Idee des Verschwindens inspiriert. Ich dachte mir: Im Zeitalter von Handy und Internet kann ein Mensch nur noch an wenigen Plätzen unerreichbar sein – etwa im tiefen Urwald. Die Abgeschiedenheit des Dschungels fasziniert mich, ich war auch im Urwald von Brasilien und Ecuador.
Die Themen in Ihrem Buch – wie das Meer, der Urwald, Familie, Liebe – sind von
universaler Gültigkeit. War das so geplant?
Ja, auf jeden Fall. Meiner Ansicht nach erfüllen Romane den Zweck, über universale Themen zu erzählen, Geschichten, die unabhängig von Zeit und Ort von allen Menschen zu verstehen sind.

Sie sind seit ihrer Kindheit ein Literaturliebhaber?
Ja, ich bin verrückt nach Literatur, wie so viele Literaten habe ich schon als Kind das Lesen geliebt und mit zwölf meine ersten Gedichte verfasst.
Als Lektor und Verleger kennen Sie die Buchszene sehr gut: Haben Sie Ihren
schriftstellerischen Erfolg vorausgeahnt?
Nein, überhaupt nicht. Mein Buch hatte augenscheinlich wenige Chancen, ein großer Erfolg zu sein. Es hat über 600 Seiten, kostet viel, und ich war als Autor noch nicht sehr bekannt. Der Erfolg war eine große Überraschung. Als mein Verleger mir das erste Mal mitteilte, er werde es erneut drucken, konnte ich es nicht glauben, mittlerweile erscheint es in der neunten Auflage, in verschiedenen Sprachen. Das freut mich sehr, vor allem, weil ich mich jetzt in Ruhe meinem nächsten Roman widmen kann.

Interview und Übersetzung: Nicole Trötzer

Enrique de Hériz, Jahrgang 1964, stammt aus Barcelona.
1994 erschien sein erster Roman. 2003 erhielt er den Premio UNED für Kurzprosa. Für seinen dritten Roman, »Lügen«, wurde ihm 2004 der Preis des spanischen Buchhandels, der Premio Llibreter, verliehen. Im Alter von nur 55 Jahren verstarb der Autor Enrique de Hériz unerwartet im März 2019.

Enrique de Hériz: Lügen
Roman
Aus dem Spanischen von Peter Schwaar
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2005